ATOS DOS HOMENS / ACTS OF MEN

Inhalt

ATOS DOS HOMENS sollte ursprünglich ein Film über den Alltag von Menschen in Brasilien werden, die ein Massaker überlebt haben. Der Drehbeginn war für April 2005 geplant – aber so lange wartete die Realität nicht. Am letzten Tag im März, genau einen Monat, bevor wir laut Zeitplan mit dem Drehen anfangen wollten, hatte sich die Lage geändert: In Baixada Fluminense, einem Ort in der Nähe von Rio de Janeiro, waren neunundzwanzig Menschen im größten Massaker der Geschichte Rio de Janeiros von Todesschwadronen getötet worden. Die inzwischen gefassten Mörder sind Polizisten aus der Gegend, die zu so genannten Vernichtungskommandos gehören und in Erpressungen, Entführungen, Drogenhandel ebenso wie in Tötungsdelikte verwickelt sind. Die Wurzeln dieses Problems reichen in die fünfziger Jahre zurück und haben heute einen extremen Höhepunkt erreicht.

Der Film ist in vier Teile gegliedert: Der Alltag in Baixada Fluminense zeigt Aufnahmen von den Bewohnern des Ortes, die so wirken, als seien sie vor dem Massaker gedreht; tatsächlich sind sie erst danach entstanden. Das Massaker beschreibt das Gemetzel und die Gefühle, die es auslöste. Todesschwadronen beschäftigt sich mit den Killerkommandos

der Gegend und enthält ein Interview mit einem professionellen Mörder. Alltag 2 zeigt die Menschen in Baixada Fluminense und ihre Versuche, das Erlebte zu verarbeiten.

Der Regisseur über den Film

Ich bin Anthropologe und beschäftige mich seit vierzehn Jahren mit dem Thema Gewalt in Brasilien. Leider ist Gewalt einer der Schlüssel zum Verständnis zeitgenössischer Gesellschaften. Das trifft auf die Situation in Brasilien sogar in erhöhtem Maße zu. (...)

Da die Filmaufnahmen kurz nach den erwähnten Ereignissen stattfanden, hatten viele Menschen Angst, ihr Gesicht zu zeigen. Deswegen habe ich mich aus ethischen und ästhetischen Gründen dazu entschlossen, die Leinwand in diesen Momenten ganz weiß zu lassen.

In einer ersten Schnittfassung waren die Aussagen des Auftragskillers noch vor einer schwarzen Leinwand zu hören, während sie weiß war, wenn die Angehörigen der Opfer erzählen. Das gute Weiß und das böse Schwarz. Ich habe mich aber dann für die Blindheit des Weißen entschieden und für das unangenehme Gefühl, in einem hellen Kinosaal zu sitzen, während der Auftragskiller spricht – das genaue Gegenteil vom üblicherweise dunklen Kinosaal. (...) Es wäre einfacher gewesen, die Guten vor eine weiße Leinwand und die Bösen vor eine schwarze Leinwand zu setzen, aber ich glaube nicht an diese simplen Gegensätze. (...)

In ATOS DOS HOMENS gibt es keine Musik. Der Ton wurde dergestalt bearbeitet, dass einige Elemente des Originaltons hervorgehoben wurden. In einigen Fällen haben wir damit einen verstärkten, gefälschten Originalton erzeugt. Auf diese Weise entstand eine Atmosphäre, die die Zuschauer mit einbeziehen möchte, indem sie in einzelnen Szenen Schritte von Personen und andere Hintergrundgeräusche hören. Die einzige bedeutende Veränderung des Tons erfolgt bei der Ankündigung des Massakers. Drei Minuten lang ist die Leinwand vollkommen weiß, und es sind die Namen der Menschen zu lesen, die durch das Massaker umkamen.

Die Bilder in ATOS DOS HOMENS wollen in keinem Moment schön sein. Die Kamera zittert, oft haben wir die Aufnahmen ohne Stativ gemacht. In solchen Situationen wird deutlich, dass das gesamte Team Angst hatte, in diesem Moment dort zu sein. Die Bilder wurden in der Postproduktion kaum bearbeitet. Mir ging es nicht darum, eine Kriegsreportage zu drehen, die auf gewalttätige Bilder und wichtige Umstände setzt, die aber nur für eine kurze Zeit von Bedeutung sind. (...) Ich wusste, dass ich einen Film machen würde, der erst viele Monate später von einem Publikum gesehen wird. Eine Kriegsreportage interessiert sich nicht für das, was an den Rändern stattfindet, wie das Leben der Transvestiten zum Beispiel. Ich war interessiert an den Menschen, die in dieser Gegend leben und die teilweise nicht einmal eine besondere Beziehung zu diesem Massaker hatten. Eine Reportage ist gekennzeichnet durch das übermäßige Interesse am Sichtbaren – und nicht durch das Interesse am phantasmagorischen Weiß und an der Unsichtbarkeit.

Interview mit dem Regisseur

Frage: Welche Eindrücke bringen Sie von Baixada Fluminense mit?

Kiko Goifman: Es gibt im Brasilien des 21. Jahrhunderts einen Ort zwischen Rio de Janeiro und São Paulo, an dem der Tod die gängige Methode ist, um unterschiedlichste Konfl ikte zu lösen. Was in meinem Film nicht zu sehen ist, ist der Druck, den die lokale Elite auf mich ausübte, weil sie nicht wollte, dass ich die Gewalt in Baixada Fluminense thematisiere. Sie sagen, dort gäbe es gar keine Gewalt oder beschweren sich darüber, dass man immer nur diese eine Seite dieses Ortes zeigen würde. Ich habe bei diesen Leuten ein enormes Bedürfnis wahrgenommen, „die Sonne mit dem Finger zu verdecken“. Durch die Gespräche mit den Bewohnern von Baixada Fluminense wurde mir auch klar, dass Menschen, die an einem solchen Ort der Gewalt wohnen, schnell ihr normales Leben wieder aufnehmen wollen.

Frage: Warum haben sich Menschen, die ihr Gesicht nicht zeigen wollen, trotzdem bereit erklärt, im Film zu sprechen?

K.G.: Die Leute dort sind sich darüber bewusst, dass das Massaker nicht vergessen werden darf. Das Bedürfnis zu reden war viel stärker als etwa das Motiv der Eitelkeit, mit dem wir Dokumentarfilmer so häufig konfrontiert sind.

Frage: Warum hat der Auftragskiller geredet?

K.G.: Sein Denken folgt einer ganz klaren Logik: Wenn man den Standpunkt akzeptiert, dass die Polizei nichts tut und dass die Gesellschaft deshalb deren Funktion übernehmen muss, dann ist er ein Held, ein Beschützer. Er sieht sich selbst nicht als Verbrecher. Er möchte sein Gesicht nur deshalb nicht zeigen, weil er weiß, dass das, was er tut, illegal ist.

Frage: Im Film sprechen Sie an, dass Sie Angst hatten. War das eine diffuse Angst, oder hatte sie ganz konkrete Ursachen?

K.G.: Ich hatte die ganze Zeit über Angst. In dem Moment, in dem man beschließt, keine Angst mehr zu haben, und mit einer verdeckten Kamera arbeitet, ist man unten durch. Die verdeckte Kamera erleichtert die Arbeit und spart Zeit, aber im kriminellen Milieu bedeutet das Hochverrat.

Aus: Folha Ilustrada, São Paulo, 8. August 2005

Biofilmografie

Kiko Goifman wurde 1968 in Belo Horizonte, Brasilien, geboren und lebt in São Paulo. Er studierte Anthropologie an der Universidade Federal von Minas Gerais und machte seinen Master-Abschluss am Fachbereich Multimedia an der Universität von Campinas. Neben Dokumentar- und Experimentalfilmen realisierte er auch Videoinstallationen.

Filme / Films

1992: Tereza (Video, Kurzfi lm). 2003: 33 (35mm, Spielfilm).
Dense Death (Video, 55 Min.). 2006: ATOS DOS HOMENS.



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